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Professor Dressler über den aktuellen Stand der Botulinumtoxin-Therapie

PROFESSOR DRESSLER ÜBER DEN AKTUELLEN STANDE DER BOTULINUMTOXIN-THERAPIE

 

Q: Professor Dressler, die Botulinumtoxin-Therapie ist nun über 30 Jahre alt. Wo stehen wir heute?

Dressler: Die gute Nachricht ist: Die Botulinumtoxin-Therapie ist jetzt eine gut etablierte Therapie, besonders für die vielen Formen der Dystonie. Das bedeutet, dass wir Behandlungsstandards, Richtlinien, Konsensus-Empfehlungen, Zulassungen, Langzeit-Erfahrungen und solide Sicherheitsdaten haben.

Q: Sie zeichnen ein sehr positives Bild. Gibt es denn keine Probleme?

Dressler: Ja, natürlich gibt es Probleme. Das größte Problem ist die Verfügbarkeit der Botulinumtoxin-Therapie. Viele Patienten wären ideale Kandidaten für eine Botulinumtoxin-Therapie, aber sie werden nicht behandelt. Früher war das ein Problem der Awareness, der Bekanntheit des Krankheitsbildes und der Therapie. Jetzt ist das Problem die Restriktionen des Gesundheitssystems. Je nach Gesundheitssystem sind die Restriktionen anderer Art: In manchen Ländern, wie in Deutschland, werden die Medikamentenkosten erstattet, nicht aber die medizinische Behandlung. Das führt natürlich dazu, dass immer weniger Ärzte und Kliniken die Behandlung anbieten. In anderen Ländern, wie in Großbritannien, verhindern regionale Budgets den Ankauf des Medikaments. In wieder anderen Ländern, z. B. in Frankreich, ist die Zahl der Anwender begrenzt. Die Verfügbarkeit in nicht-industrialisierten Ländern ist ein noch viel größeres, ein riesiges Problem. Hier sind wir besonders engagiert, um die Botulinumtoxin-Therapie in diese Länder zu bringen. Hier besteht ein dramatischer Nachholbedarf.

Q: Wer kann hier helfen? Es gibt viele Patientenselbsthilfeorganisationen.

Dressler: Für Selbsthilfeorganisationen ist es sehr schwierig, die Probleme zu erkennen und zu durchschauen: Alle unsere hybriden Gesundheitssysteme sind extrem komplex und Ursache und Wirkung sind multifaktoriell verknüpft. Und selbst, wenn die Probleme erkannt werden: Heutzutage herrscht ein heftiger Verteilungskampf um die begrenzten Ressourcen. Patientenorganisationen mit einer begrenzten Mitgliederzahl werden dabei meist marginalisiert.

Q: Wie steht es mit der Pharmaindustrie?

Dressler: Botulinumtoxin-Medikamente sind ‚alte‘ Medikamente. Nach den traditionellen Vorstellungen des betriebswirtschaftlichen Life Cycle Managements wird hier nicht mehr investiert, besonders nicht in Markterschließungsmaßnahmen. Dann stagnieren die Verkaufszahlen und ein typischer Circulus vitiosus beginnt. Harte Konkurrenz drückt zusätzlich die Verkaufspreise. Ein bekannter Botulinumtoxin-Hersteller hat seine Botulinumtoxin-Forschungsabteilung komplett geschlossen. Ein anderer wurde durch mehrfache Übernahmekämpfen nachhaltig geschwächt und erfahrene Mitarbeiter in Forschung und Verkauf haben das Unternehmen verlassen. Allerdings: Ein neuer US-Hersteller hat einen neuen Ansatz entwickelt. Die Registrierungsstudien sind in den USA und in Europa angelaufen. Das zumindest ist ein gutes Zeichen.

Q: Was hört man von den asiatischen Botulinumtoxin-Herstellern?

Dressler: Bislang waren die asiatischen Botulinumtoxin-Hersteller auf ästhetische Anwendungen und Märkte außerhalb von Europa und Nordamerika fokussiert. Ich sehe jedoch, dass sich hier gerade der Fokus ändert. Es gibt jetzt ein wachsendes Interesse an therapeutischen Anwendungen und an den Regionen Europa und Nordamerika. Das wird sehr bald die internationale Konkurrenz beleben und damit – hoffentlich – auch den Enthusiasmus der Pharmaindustrie.

Ein riesiges Potential besteht innerhalb von China. Im Moment ist der chinesische Botulinumtoxin-Hersteller gerade dabei, dieses riesige Potential zu realisieren und im großen Stil in die therapeutische Expansion in China zu investieren. Da ergeben sich viele Chancen.

Q: Wie sieht die Situation in der Grundlagenforschung aus?

Dressler: Viele große Grundlagenforscher sind bereits in Ruhestand gegangen oder werden demnächst in Ruhestand gehen. Die meisten gehen, ohne einen Nachfolger gefunden zu haben. Forschungsgelder in den Bereichen Biologische Verteidigung und Lebensmittelsicherheit werden reduziert, da hier die Gefahrenlage in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr die Priorität besitzt wie noch vor einigen Jahren.

Q: Und in Ihrem Spezialbereich, der klinischen Forschung?

Dressler: In den späten 1980er, 1990er und auch in den frühen 2000er Jahren konnte man mit dem Einsammeln von niedrig-hängenden Früchten noch reüssieren. Wir haben aber bereits sehr früh gesehen, dass dies nur für eine kurze Zeit ein praktikables Geschäftsmodell sein kann. Wir haben deshalb mit meinem Wechsel hier nach Hannover vor 10 Jahren ein planmäßiges und detailliertes translationales Botulinumtoxin-Forschungsprogramm aufgelegt. Das heißt: Wir haben grundlegende Aspekte der Botulinumtoxin-Therapie identifiziert und diese mit vorklinischen und klinischen Methoden untersucht. Dieses Forschungsprogramm beinhaltet Studien zum Präparatevergleich, zur Medikamentenstabilität, zur Immunologie und zur Bindung, zu Antikörper-Detektionssystemen, Dosis-Wirkungskurven, zum Injektionsschmerz und Studien zur Kosteneffizienz.

Die Studien, die unmittelbar für Patienten die größte Bedeutung haben dürften, sind unsere Studien zu neuen Behandlungsalgorithmen. Diese Studien haben in der Tat die Art und Weise, wie wir die Botulinumtoxin-Therapie praktizieren, nachhaltig verändert.

Q: Was sind das für Studien?

Dressler: Basierend auf einem neuen niedrigantigenen Botulinumtoxin-Medikament haben wir eine Hochdosis-Therapie, eine Kurzinterval-Therapie und eine Re-Start-Therapie entwickelt.

Q: Warum sind diese Studien für Patienten interessant?

Dressler: Mit der Möglichkeit, Xeomin in Dosen von bis zu 1500MU, die Hochdosis-Therapie, zu verwenden, können wir jetzt auch ausgedehntere und schwerere Dystonieformen behandeln. Dies hat die Abgrenzung zwischen der Botulinumtoxin-Therapie und der Tiefen Hirnstimulation nachhaltig verändert. Mit der Kurzinterval-Therapie können wir jetzt Patienten helfen, bei denen Botulinumtoxin weniger als 12 Wochen wirkt. Das kann die Dauer der maximalen Effektivität der Therapie um ein Viertel oder um 3 Monate pro Jahr erhöhen. Die Re-Start-Therapie richtet sich an Patienten mit antikörpervermitteltem Therapieversagen. Wenn deren Antikörperspiegel in der Behandlungspause abfallen, kann die Botulinumtoxin-Therapie mit einem niedrigantigenen Botulinumtoxin-Medikament wieder aufgenommen werden. Dabei kann die Therapiesensitivität auf Dauer aufrechterhalten werden.

Q: Professor Dressler, was ist Ihr Resümee?

Dressler: Es gibt in der Botulinumtoxin-Therapie tatsächlich im Moment viele Herausforderungen. Dazu gehören die Verfügbarkeit, das industrielle Umfeld, die Situation in der Grundlagenforschung und die Stagnation in der klinischen Forschung. Aber es gibt auch Hoffnung: Ein neuer Wettbewerb und gut geplante Forschungs- und Entwicklungsprojekte werde die Botulinumtoxin-Therapie mit Sicherheit auf eine neue Stufe heben.

Q: Vielen Dank, Professor Dressler

Interview-Text