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Was gibt es Aktuelles in der Behandlung mit Botulinumtoxin?

Der Einsatz von Botulinumtoxin bei Dystonien und anderen Bewegungsstörungen ist eine wichtige Säule eines gesamtheitlichen Therapiekonzepts. Dennoch wird das Potential dieser Therapie noch nicht optimal ausgeschöpft. Über die breiten Anwendungsmöglichkeiten von Botulinumtoxin, praktische Aspekte des Therapiemanagements und der aktuellen Versorgungssituation sprachen wir mit Prof. Dr. Dr. h.c. Dirk Dressler, Leiter des Bereichs Bewegungsstörungen an der Klinik für Neurologie, Medizinische Hochschule Hannover

 

Herr Professor Dressler, was gibt es Aktuelles in der Behandlung mit Botulinumtoxin?

Dressler: Die wichtigste aktuelle Entwicklung sind die neuen Dosierungsrichtlinien für die Anwendung von Botulinumtoxin bei Dystonien [1]. Diese beruhen auf den Empfehlungen eines internationalen Expertengremiums, das erstmals exakte statistische Analysen realer Behandlungssituationen ausgewertet hat. Dabei werden für alle Zielmuskeln typische Dosen, Dosisvariabilitäten und Dosis-Spannbreiten angegeben. Für alle wesentlichen Krankheitsbilder finden sich darüber hinaus Daten zur Zielmuskelauswahl. Ebenfalls wichtig sind die Fortentwicklungen der Behandlungsalgorithmen. Bei der Einführung der Hochdosis-Therapie wurde gezeigt, daß da, wo es notwendig ist, Gesamtdosen zum Einsatz kommen können, die deutlich über den bisherigen Empfehlungen liegen, ohne daß es zu systemischer Toxizität und zu Antikörper-Entwicklungen kommen würde [2]. Damit können jetzt erstmals ausgedehntere und schwerere Krankheitsbilder behandelt werden [4]. Bei der Einführung der Kurzintervall-Therapie [3] wurde gezeigt, daß kürzere Behandlungsintervalle angewendet werden können, ohne daß es dabei zu Kumulationseffekten und zu Antigenitätsproblemen kommt. Mit der Zulassung von incobotulinumtoxinA zur Behandlung von Sialorrhoe wird dieses seit Jahren angewendete Behandlungsprinzip nun endlich einer größeren Gruppe von Patienten zugänglich gemacht.

 

Welchen Stellenwert hat die Botulinumtoxin-Therapie in der Behandlung von Dystonien?

Dressler: Bei der Behandlung von Bewegungsstörungen ist die Botulinumtoxin-Therapie der größte Durchbruch in den letzten Jahrzehnten. Das betrifft vor allem die Behandlung von Dystonien. Ohne die Einführung der Botulinumtoxin-Therapie wären die wahren Dimensionen der Dystonie nie bekannt geworden und die Entwicklung des gesamten Dystoniekonzepts hätte so nicht stattgefunden. Wichtig ist, daß zur Erreichung optimaler Behandlungsergebnisse die Botulinumtoxin-Therapie maximal individualisiert werden muß und daß sie in ein ganzheitliches Behandlungskonzept eingebettet werden muß. Botulinumtoxin allein ist selten ausreichend [4].

 

Wie läßt sich eine erfolgreiche Behandlung einer Dystonie realisieren? Wie gehen Sie vor?

Dressler: Es kommt entscheidend auf die Analyse des individuellen Patienten an. Wo ist die Dystonie lokalisiert? Wie stark sind die dystonen Muskelaktivitäten? Welche Muskelaktivität ist kompensatorisch? Welchen Stellenwert hat die einzelne Dystoniemanifestation für den Patienten? Wo finden sich Schmerzen? Wie sind die Funktionsabläufe? Wo liegen Blockierungen? Welche Modulationsfaktoren beeinflussen die Dosierungen? Gibt es bereits Vorerfahrungen? Aus all diesen Überlegungen ergibt sich das Injektionsschema. Anschließend geht es um die Applikation des Botulinumtoxins in die vorgesehenen Zielmuskeln. Dabei ist ein dreidimensionales anatomisches Grundverständnis wichtig. Zahlreiche Tricks können bei der Darstellung der Zielmuskeln helfen. Auch das ist eine Frage der Erfahrung und der Praxis. Die Rolle der Ultraschall-Bildgebung wird regelmäßig überschätzt. Bei einigen speziellen Anwendung kann sie aber sinnvoll sein. Anschließend geht es darum, ein passendes Gesamtkonzept aus den weiteren Elementen der Dystonietherapie für den einzelnen Patienten zu entwickeln und den Patienten langfristig zu führen und zu motivieren.

 

Wie gut ist die Versorgung von Patienten mit Dystonien in Deutschland?

Dressler: Dazu braucht man zunächst solide epidemiologische Daten zur Gesamthäufigkeit des Krankheitsbildes und zur Häufigkeit der einzelnen Dystonieformen. Diese Daten hat es aus vielerlei Gründen bislang nicht gegeben. Diese Lücke haben wir jetzt endlich mit den Daten aus unserem Hannoveraner Dystonieregister geschlossen. Zusammen mit sozio-ökonomischen Daten, die wir schon früher erhoben haben, können wir zumindest für die Botulinumtoxin-Therapie in Deutschland sagen, wie eine adäquate Versorgung aussehen müßte. Wenn man das mit den Umsatzzahlen der Botulinumtoxin-Hersteller vergleicht, ergibt sich daraus ein ziemlich realistisches Bild. Natürlich müssen ähnliche Berechnungen auch für die anderen Therapien hinzukommen. Generell zeigen sich erhebliche regionale Unterschiede. Mit großer Sorge sehen wir, daß sich die Versorgung der Dystonien rapide verschlechtert, insbesondere, was die Qualität angeht. Aber das ist ein Trend, der sich auch im gesamten Gesundheitssystem findet.

 

Wie kann die Versorgung von Patienten mit Dystonien verbessert werden?

Dressler: Das beginnt mit der Aufklärung über dieses Krankheitsbild und seine vielfältigen Erscheinungsformen. Hier können Selbsthilfeorganisationen wie die Deutsche Dystonie Gesellschaft eine ganz wichtige Rolle spielen. Dann geht es natürlich aber auch um den Aufbau vernünftiger Versorgungsstrukturen. Wie viele Dystoniezentren brauchen wir? Sind es zu viele, sinkt die Qualität. Sind es zu wenige, ist der Zugang der Patienten eingeschränkt. Werden genügend Ärzte für die Diagnose und die Therapie von Dystonien ausgebildet? Wie kann die Vernetzung der verschiedenen beteiligten Therapeuten verbessert werden? Da ist der zum Beispiel Ansatz von IAB – Interdisziplinärer Arbeitskreis Bewegungsstörungen sehr hilfreich [5]. Welche bürokratischen Behinderungen gibt es? Macht es Sinn, daß bei einer großen Zahl von Dystonien wegen einer fehlenden Medikamentenzulassung eine Botulinumtoxin-Therapie nicht angewendet werden kann? Warum gibt es eigentlich immer noch keine Erstattung der ärztlichen Leistung bei einer Botulinumtoxin-Therapie? Solange das nicht der Fall ist, wird eine gesicherte, belastbare Versorgung der Patienten nicht zu erreichen sein.

 

Literatur

[1] Dressler D et al. (2021) Consensus Guidelines for Botulinum Toxin Therapy: General Algorithms and Dosing Tables for Dystonia and Spasticy. J Neural Transm 128:321-335.

[2] Dressler D et al. (2014) Safety aspects of incobotulinumtoxinA high dose therapy. J Neural Transm 122:327-333.

[3] Dressler D, Adib Saberi F (2017) Immunological safety of incobotulinumtoxinA (Xeomin®) therapy with reduced interinjection intervals. J Neural Transm 124:437-440.

[4] Dressler D et al. (2015) Strategies for Treatment of Dystonia. J Neural Transm 123:251-258.

[5] www.iabnetz.de

 

Univ.-Prof. Prof.hon. Dr.med.habil. Dr.h.c. Dirk Dressler
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
Leiter des Bereichs Bewegungsstörungen
Klinik für Neurologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
D-30625 Hannover
dressler.dirk@mh-hannover.de